arte, 30/06/07, 21.35, wiederholungen Juli:

Buch und Regie: Caterina Klusemann, Kamera: Axel Schneppat, Ton: Mario Köhler,

Schnitt: Ingo Röske, Produziert von Medienkontor für arte


Für die Dialogliste auf dieser seiten ein Link zum runterladen: http://www.geo.de/GEO/kultur/geo_tv/53829.html


In El Morro, an der Nordostküste Venezuelas, leben die Menschen seit jeher von der Sardinenfischerei.


In El Morro, an der Nordostküste Venezuelas, leben die Menschen seit Jahrtausenden von der Sardinenfischerei. „Wenn es keinen Fisch gibt, sind wir erledigt, es gibt kaum andere Arbeit“, sagt die 78-jährige Luisa Vargas. Sieben Kinder hat sie mit Sardinen großgezogen, und auch die Familien ihrer 52 Enkel leben vom Meer. Doch in den letzten Jahren haben die Erträge massiv abgenommen, die Überlebensbedingungen sind härter geworden. Seit acht Monaten werden die Sardinen in El Morro sogar komplett vermisst – mit jedem Tag ohne großen Fang spitzt sich die Lage zu. 360° - GEO Reportage begleitet Luisa Vargas und ihre Familie bei ihrem täglichen Ringen mit der Natur. Wenn es Sardinen gibt, arbeitet Luisa Vargas trotz ihrer 78 Jahre Tag und Nacht ohne Pause: Sie hilft beim Ausladen der Boote, Ausnehmen der Sardinen oder dem Weitertransport in die Fabrik von El Morro.


Doch im Moment kann sie nur, ab und zu beim Tragen einer Kiste Fisch anpacken. Lediglich kleine Haie, Makrelen oder Anchovis gehen den Fischern bei ihren Fangzügen vor der venezolanischen Küste  ins Netz. Doch die bringen auf den lokalen Märkten nur das Nötigste zum Überleben ein – im Gegensatz zu den Sardinen, die für den Export bestimmt sind. Solange keine Sardinen in der Nähe von El Morro auftauchen, müssen die Männer des Dorfes weit hinaus aufs Meer ziehen - teilweise sogar in die Nachbarländer Surinam oder Guyana. Wochenlang sind sie dann von ihren Familien getrennt. Und leben immer mit der Gefahr verhaftet zu werden, weil sie illegal in fremden Hoheitsgewässern fischen.


Während der Abwesenheit ihrer Männer versuchen die Frauen, ein wenig Geld zu verdienen: Luisas Enkelin Naile vermietet ihre Waschmaschine an die Nachbarinnen, zusammen mit zwei ihrer Schwestern teilt sie sich einen Job in einer Suppenküche. Naile sieht immer weniger Zukunft in der Sardinenfischerei, und auch ihre Kinder wollen lieber Ärzte, Lehrer oder Anwälte werden, statt sich auf die Launen der Natur zu verlassen. Warum die Sardinen verschwunden sind, ist ungewiss. Offizielle Stellen sagen, die Meereserwärmung habe zum Ausbleiben der Algenblüten geführt, wovon sich die Sardinenlarven ernähren. Andere Gründe könnten die jahrelange Überfischung und die Verschmutzung der Küstengewässer sein. Doch im Gegensatz zu ihren Frauen bleiben die Fischer von El Morro optimistisch „Die Sardinen waren schon einmal sieben Jahre weg. Dann kamen sie wieder und wir haben weitergemacht. Wir wurden geboren, um Fischer zu sein – und so lange das Meer da ist, lebt die Hoffnung in jedem aus El Morro.“


 

Die alte Frau und das Meer (2007)

Making of



Reisen haben, wie man weiß, eine äußere und eine innere Seite. Und in manchen, in den besten Fällen, sind sie ein wenig von beidem. Diese Reise nach El Morro, an der nordöstlichen Küste Venezuelas gelegen, schien mir zuerst gar nicht so groß: Meine Mutter ist Venezolanerin, ich bin in Venezuela eingeschult worden. Meine Mutter hatte Maria, die wir filmen wollten, vor einigen Jahren kennengelernt und interviewt, und war nun vorgereist, um meine Ankunft vorzubereiten und mir die Familie vorzustellen. Es schien mir eine Rückkehr zu sein, viel einfacher als eine Reise. Und tatsächlich, als wir in El Morro angekommen sind, war da vorerst etwas Vertrautes, Erinnerungen an die Kindheit: die feuchte, salzige Meeresbrise, Fisch, ein weicher Müllgeruch. Und schamlose Farben: Blau, Rosa, knalliges, fluoreszierendes Grün. Die Musik bläst aus den Türen, Arepas und Empanadas werden in Öl gebraten; sie sind mit süßem Haifisch gefüllt.

 

Und dann habe ich sie kennengelernt: Luisa, Maria und ihre Töchter, drei Generationen von Weibern. Und was für welche... Meine Mutter hat ihnen gesagt: „Passt auf meine Tochter auf,“ bevor sie abgefahren ist. Was für magische Worte: Aufpassen, das ist, was sie kennen, was sie tun, aufeinander, auf die Kinder, auf die Mütter. Das ist ihr Handwerk, die Sorge um die anderen, das Zusammensein, verknüpft wie das teuerste Fischernetz, um es zu schaffen, unter ihren Umständen. Und zufälligerweise ist es auch, was ich kenne: wie man, drei und vier Generationen miteinander, verwebt und manchmal verkettet, sich umsorgt und bekümmert, Kraft schöpfend und manchmal auch zehrend zusammenbleibt.



Und so war das Filmen: Ich war für sie das Kind, um das man sich kümmert, Schwester für die Jüngeren, Vertraute der Mütter. Sie waren für mich Familie und Objekt der Bewunderung und Erzähllust. Und dennoch: noch nie war ich an dieser Küste, noch nie in einem Fischerdorf, noch nie in so einem aussichtslosen Dorf wie El Morro, noch nie hatte ich Frauen unter solch harten Umständen ihren Alltagskampf kämpfen gesehen. Sie tun kleine Dinge: Kinder anziehen, kämmen, ernähren, zum Arzt bringen. Aber sie haben kein Trinkwasser, keine Krankenversicherung, keine Transportmittel. Sie haben kein Geld für Essen, keine Männer zur Stütze, keine Perspektive...


Ich habe manchmal gar nicht verstanden, wie sie die Hoffnung immer wieder aufbauen können, dass die Sardinen kommen, dass alles schlagartig gut wird, obwohl es schon Monate sind, seitdem sich Sardinen das letzte Mal gezeigt haben. Das ist nicht wissenschaftlich, das hilft doch nichts! Es ist wie in Klondike - das Gold ist aus, und doch glauben sie noch, es könnte kommen, gelähmt, handlungsunfähig... Und die Lage verschlechtert sich hinter diesen vordergründigen, sich wie eine Spirale zusammenziehenden Zyklen von Hoffnung und ihrer Zerstörung. Die Kinder werden krank, das Geld geht aus, und niemand unternimmt was, niemand tut etwas großes... aber was sollten sie auch tun? Sie können nicht einfach weg, sie können nicht einfach etwas anderes aufbauen. Die Jüngeren vertrauen weniger auf Hoffnung, sind weniger gelähmt, aber das Schicksal schlägt ihnen kräftig zwischen die Beine.



Und wenn es sie fast am Boden hat, dann bleibt nur eins, was ich wiederum kenne, von den Frauen meiner Familie: Lachen, ganz feste und laut drauf lachen. Wie sehr ich sie geliebt habe, dann, wenn sie so mutig, so verzweifelt gelacht haben...Sie waren toll, aber toll waren auch die Männer, ihre und die, die dieses Abenteuer mitgemacht, mitgesehen und mitgehört haben, die mutig auf den rasenden und schwappenden Booten gefilmt und aufgenommen und diskret die Weiberkreise eingefangen haben: Axel Schneppat, der gedreht hat, Mario Köhler, der den Ton aufgenommen hat. Dank ihnen haben wir das Material dieser Reise, die doch viel größer, weiter und rührender geworden ist, als ich es erwartet hatte, nach Hause gebracht. Und dank Ingo Röske, der zwar nicht dabei war, aber die Reise im Schnittraum mitgemacht hat und ebenso mutig war, um aus viel Material mit mir diesen Film fertig zu machen.



Fotos: Axel Schneppat, Elena Klusemann