Holocaust Babylon
Die Bedeutung des Holocausts für die dritte Generation": Damit hat sich die Gruppe, aus der dieses Buch hervorgegangen ist, zwei Jahre lang beschäftigt. Wir haben intensiv über die Erinnerung des Holocaust, Generationen und Rezeptionen geredet; dazu Texte gelesen, Vorträge besucht und Experten befragt. Schließlich haben wir aber fast nie auf die Bedeutung reflektiert — und auch keine gefunden.
Ich glaube, daß wir mit dem Versuch eines Verstehens etwas über unsere Menschlichkeit hätten entdecken könnten. Doch die meisten von uns, auch unserer Generation, haben die Formel „Nie wieder Auschwitz!" und ein Gegensatzpaar von Gut und Böse als „Verständnis" des Holocaust übernommen: „Der Holocaust wurde zum Inbegriff des Bösen und seine Bekämpfung im Gewand der Menschenrechte und der Bekämpfung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit das neue Credo der ‚zivilisierten‘ Welt." Doch wird der Holocaust nur dann eine kraftvolle Erinnerung besitzen, wenn er von jeder Generation wieder neu mit einer Bedeutung versehen wird. Ansonsten wird er zu einem Schlagwort verkümmern. Wenn wir nicht versuchen, ihn uns anzueignen, wird er vergessen werden. Mit diesem Buch versuchten wir auf getrennten Wegen, die Konsequenzen des Holocaust zu betrachten, und haben Ansätze verfolgt, wie wir uns in Abgrenzung zu ihm und seiner Erinnerung definieren können. Was mehr hätten wir erreichen können, wenn wir untereinander das Gespräch gefunden hätten? Und warum haben wir es nicht gefunden?
Trotz ähnlichen Alters, Bildungs- und Betroffenheitsgrades sind innerhalb unserer kleinen Gruppe so viele unterschiedliche Auffassungen aufeinandergeprallt, daß wir streckenweise unfähig waren, uns über den Holocaust zu verständigen. Für manche ist der Holocaust eine Familienangelegenheit, für manche ein Chiffre, für manche besetzt mit Gefühlen wie Scham, Verletzung, Angst oder Wut. Für wieder andere ist er wissenschaftliches Objekt, Inspiration, Metapher, Wunde. Ich erinnere nur wenige gemeinsame Diskussionen über was uns wichtig sei, doch zeigten die, daß wir nicht dieselbe Sprache sprechen. Unsere emotionalen und intellektuellen Positionen, welche Bedeutung der Holocaust trägt, waren stets unüberbrückbar, nicht zuletzt, denke ich, wegen einer grundsätzlichen Andersheit in unseren Identitäten. Daher die Angst, verletzt zu werden oder die anderen zu verletzen, am empfindlichsten Punkt der Identität, der an jenem „Deutsch-" oder „Jüdischsein" hängt. Jetzt noch fühle ich mich schuldig zu sagen, daß diese Andersheit da war, daß ich sie gefühlt habe. Im Seminar wagte ich nicht, sie aufzubringen, es schien albern zu sein. Ich wußte, daß ich nicht verletzt oder beleidigt werden würde, aber die Angst davor ließ mich das Thema vermeiden.
Verschiedene Artikel in diesem Buch diskutieren, das die Zuordnung in Opfer- und Täterrollen aufgehoben werden sollte. Wir haben aber nie vorher diskutiert, weshalb das vielleicht noch nicht so einfach ist.
Täter und Opferrollen
Ich habe Teile von beiden Rollen in mir, und habe erfahren, daß diese Rollen schwer miteinander zu versöhnen sind. Sie sind schwer zu vergessen, beide haben einen je anderen Blickwinkel auf die Vergangenheit und ihre Konsequenzen. Das habe ich erst in meiner Kindheit erlebt, später wurde ich vor allem in Deutschland damit konfrontiert.
Ich bin in Italien geboren, mein Vater war Maler, aus Deutschland, meine Mutter ist Venezolanerin und in Lemberg geboren. Mein Vater war in dem italienischen Dorf, in dem ich aufwuchs, als il tedesco, der Deutsche, bekannt. Nach seinem Tod bin ich mit Großmutter, Mutter und Schwester aufgewachsen. Ich wußte aus hastigen Blicken in ihre venezolanischen Pässe, daß Mutter und Großmutter nach dem Krieg Polen verlassen hatten.
Vom Holocaust wurde in Italien nicht viel gesprochen. Als das Fernsehen einen Dokumentarfilm darüber zeigte, wurde meine (damals achtjährige) Schwester von Klassenkameraden verprügelt, die „Nazi, Nazi" schrien. Als ich sieben oder acht war, hat mir ein Murmelspielkamerad am Strand im Wettstreit gesagt, Mussolini sei viel lieber als Hitler gewesen. Und daher seien italienische Kinder besser als tedeschi Kinder. Aber ich war zu dem Zeitpunkt noch nicht in Deutschland gewesen und habe mich nicht so deutsch gefühlt, um ihn im Namen Hitlers zu schlagen.
Als ich in New York begann, alte Personen aus Lemberg auszufragen, um ein Bild zu bekommen von den Orten, der Zeit und den Geschehnissen, aus denen meine Mutter und Großmutter stammten, traf ich vor allem Überlebende, die, schnell beschützend und bestimmt, meinten, ich sei ganz sicher jüdisch. Sei es auch nur, weil ich so viele Fragen stellte. Als ich meinen Mann in Jerusalem kennenlernte, nahmen die alten Lemberger, mit denen ich seit den Interviews befreundet war, herzlich Anteil. Ob er denn Jude sei? Nein, eher… Preuße. „Preuße? Deutscher? Das ist ja die Klimax des Exils!"
1999 bin ich nach Berlin gezogen. Zu spät für den Mauerfall, zu spät für die Serie Holocaust, für die Sendung mit der Maus, zu spät für all das, was verbindet. Nicht zu spät für Zeitungsartikel, Vorträge und politische Wirren, die mit dem Holocaust zu tun haben: Zwangsarbeiterentschädigungen, NPD-Verbot, Gedenktage, Anschläge auf Synagogen, erzählende Überlebende, Bücher und Debatten, Mahnmalgelder, das Jüdische Museum wird öffnen und dann doch nicht, gegen Diskriminierung wollen Besitzer ihren bissigen Hunderassen Davidsterne anstecken und demonstrieren. Und die Stadt: Mauern mit Einschlägen, Löcher wo Häuser waren, neue Häuser wo Löcher waren, Mauerreste und, neben all den Neuigkeiten, immer auch ein großes Fehlen, das mich, vielleicht weil es mich an mein löchriges Familienleben erinnerte, die Nachwehen des Kriegs überall ein wenig spüren ließ, trotz des unproblematischen Lebens, daß diese Stadt mir geboten hat.
Ich habe fast nur mit Leuten gesprochen, die diesen Verlust gespürt und sich mit der Vergangenheit, die ihn verursacht hat, beschäftigt haben. Ich habe oft auch eine Selbstgeißelung aufgefangen, wie in: „Wir Deutsche haben was Schlimmes getan", oder, bei guter Laune: „Wir haben uns nichts vorzuwerfen", oder: „Meine Familie hat damit nichts zu tun" und daher hat man „keine persönliche Verbindung", und die Klassiker: „In einem Land mit dieser Geschichte muß man/darf man nicht...", und „Wie konnte es HIER passieren?" Dieser Umgang hat mich befremdet: Dieses Fernhalten von etwas, was doch so nah ist. Ich hatte selbst eine echte Oma, Oma Maria, in Essen-Stadtwald an der Kluse, die Mutter meines Papas. Sie hat mir, als ich ein Kind war, nachmittags bei Kaffee und Kuchen oft davon erzählt, wie der Krieg war: Kartoffelmangel und das Rennen zum Bunker, Lebensmittelkarten und ein Onkel Paul, der in Rußland einen Arm verloren hat. Noch Jahre danach dachte ich, Krieg sei, im Kern, Kartoffelmangel. Sie ist schon länger tot. Ich habe die Memoiren gelesen, die sie für mich geschrieben hat. Da waren mir ihre Erinnerungen nicht mehr so selbstverständlich wie damals, als ich auf ihrem Schoß saß und extra Sahne zum Kirschkuchen löffelte. Sie schrieb: „So lernte ich zu dieser Zeit einen Jurastudenten kennen. Ich ging des öfteren mit ihm spazieren und nahm ihn dabei als möglichen Ehekandidaten kritisch unter die Lupe. Dabei stellte sich als Ehehindernis seine Farbenblindheit heraus." Als Kind, sooft sie das erzählte, leuchtete es mir immer ein: Sie erklärte mir, daß mein Vater kein Maler hätte werden können, wenn sie den farbenblinden Mann geheiratet hätte. Das macht Sinn, und lange habe ich gedacht, Farbenblindheit sei eine schlimme Sache und jemanden nicht zu heiraten, der es ist, das normalste auf der Welt. Auch hatte sie mir oft erzählt:
Eines Abends, als ich nach Hause gehen wollte, stand unten vor der Tür eine frühere Mitschülerin aus meiner Klasse. Sie war Jüdin. Als ich nach ihrem Befinden fragte, gab sie zur Antwort, sie würde auch wohl ‚wegkommen‘. Wir hatten bis dahin noch nichts von Hitlers Vernichtungsprogramm für die Juden gehört. Deshalb wußte ich leider nicht, was sie damit meinte. Ich erfuhr erst später, was das bedeutete, und so verfolgt mich der Gedanke bis an den heutigen Tag, daß ich sie mit nach Hause hätte nehmen und dort verstecken sollen, wenngleich das für mich und meine Familie ein äußerst gefährliches Unterfangen gewesen wäre. Es war aber nicht Angst, sondern Unwissenheit, die mich davon abhielt.
Heute, da ich weiß, wie viele aus ihrer Generation ihre Unterlassungen mit ähnlichen Worten entschuldigt haben, bin ich endlos traurig: darüber, daß sie nur an ihr Nest gedacht hat, daß sie ihre Kameradin nicht gefragt hat, was ‚wegkommen‘ bedeutet, daß sie, wenn sie es damals nicht besser wußte oder wissen konnte, zumindest in den vielen Jahren danach nicht darüber nachgedacht hat, was es bedeutet, jemanden wegen Farbenblindheit nicht zu heiraten. Ich habe ihr Nest mit extra Sahne genossen, aber ich wünsche mir, Oma hätte mir aus ihrer Erfahrung ein paar beispielhaftere Tricks beigebracht, wie man sich im Krieg verhält oder zumindest, wie man im Nachhinein so etwas verarbeitet, was man besser machen kann, was man einem neugierigen Kind erzählt und beibringt.
Ich habe nicht oft von anderen Großmüttern gehört und wenn, dann waren sie nicht betroffen oder nicht befragbar. Es sei nicht wichtig, das so genau zu wissen, meint etwa Nina Leonhard, eine der Beiträgerinnen dieses Bandes, auch ohne genaues zu wissen, seien die jungen Menschen politisch engagiert. Ich verstehe trotzdem nicht, was Nichtwissen für Vorteile hat. Ich finde, daß vage Phantasien ruhig durch Fakten ersetzt werden dürften, daß die nebligen unschuldigen Geschichten der Omas und Opas noch einmal klarer werden sollten. Simmert sonst nicht etwas Unaufgelöstes, etwas Widersprüchliches unter der Oberfläche? Ich glaube, dies ist mitverantwortlich für den verbreiteten Wunsch, Schuld und Scham nicht haben zu müssen, aber das verdammte, schleichende, nicht zuzugebende Gefühl, es doch zu müssen. Und dann wehrt man sich oder kompensiert über, für mich ebenso befremdlich. „Die Deutschen werden uns Juden Auschwitz nie verzeihen", sagt Henryk Broder. Und ein junger Berliner, „national eingestellt", meint, daß das der Grund ist, warum Deutsche böse werden: „Wenn man jemandem ständig vorhält, daß er böse ist, wird er böse". Eine deutsch-jüdische Bekannte sagte bei einem Folkloreabend in Irland ihrer deutschen Freundin, einer betroffenen, politisch engagierten und korrekten jungen Frau, was für schöne Tänze die Iren hätten. Das Mädchen hat geblinzelt und ist in Tränen ausgebrochen: Weil sie als Deutsche auch gerne eine Tradition hätte, auf die sie stolz sein könnte, und daß es so weh täte, daß sie, in einem Land mit solch einer Geschichte, das nicht dürfte. Vielleicht, wenn man nicht gerade „national eingestellt" ist, würde man unter Vorwürfen nicht leiden, wenn man Fakten, gegenüber denen man sich positionieren kann, hätte, statt wurmige Vermutungen und sich selbst nicht zugestandene Zweifel. Um sich von Rollen zu befreien, wäre es besser sich entscheiden zu können, über Nationalstolz hinwegzukommen, statt Stolz haben zu wollen, ihn aber runterzuschlucken, weil man ihn nicht haben darf, „in einem Land mit dieser Geschichte". Aber es bleibt schwer, von seiner eigenen Familie zu erfahren, daß jemand, den man liebt oder mit dem man zumindest aufgewachsen ist, sehr gelitten hat oder etwas Böses getan hat. Wie soll man es wiedergutmachen, wenn sie Opfer waren, wie soll man sie lieben und darf man sie entschuldigen, wenn sie Täter waren? Es tut weh zu wissen, daß unsere Vorbilder keine moralischen Vorbilder sind, daß Eltern, die im damaligen Deutschland keine Täter sein konnten, trotzdem kein positives Beispiel sind, weil sie oft noch Schmerz und Scham und Unausgefochtenes in sich tragen. Und es ist schwer mit Eltern zu leben, deren Wunden nicht geheilt sind. Es ist besser, nichts zu wissen, oft, weil man denkt, so sicher zu gehen, niemanden zu verletzen, und nicht Dinge herauszubringen, mit denen man nicht umgehen kann. Erzählen ist vielleicht noch schwieriger. Auch von kürzlich neuentdeckten Verwandten in Israel habe ich es oft genug gesagt bekommen: „Warum willst du es wissen? Was bringt es, genaues zu wissen? Es genügt zu wissen, daß es schrecklich war." Aber so nähern wir uns dem Verstehen nicht, wir tragen nur unwillentlich den Schrecken weiter.
Ich kannte bis vor wenigen Jahren die Geschichte meiner Großmutter und meiner Mutter nicht. Ich wußte nur, das sie aus Lemberg kamen und bis nach dem Krieg mitten im Geschehen waren. Wäre Großmutter zum Beispiel die Frau eines ukrainischen SS-Mitglieds gewesen, hätte ich das gern erfahren? Es wäre nicht schön gewesen, aber: Ich hätte mir immerhin ein Bild machen können, und ihr Leben und mein Leben im Schatten ihres Schweigens hätten für mich trotzdem an Schärfe gewonnen, da wieder eine Verbindung zu Vergangenheit und Geschichte hergestellt gewesen wäre. Ich habe aber erfahren, daß sie jüdisch sind und daß sie immer noch mit falschen Namen und Geburtsdaten leben, um sich zu verstecken. Vor ein paar Jahren, schon schwer depressiv, hat meine Mutter mir ihre Erinnerungen an ihre grausame Kindheit erzählt. Zu spät, die wenigen Fetzen hatte sie so lange in sich verschlossen, bis sie sie von innen aufgefressen hatten. Sie sagt, daß sie mit meinem Vater glücklich war. Ich habe sie gefragt, ob sie, beschützt von diesem Glück, versucht hätte, ihre schrecklichen Erinnerungen mit ihm zu teilen. Ja, sagt sie, aber er bat sie aufzuhören, weil es ihn zu sehr schmerzte. Es schmerzte ihn, ihre Kindheit nicht ändern zu können. Er hätte ihr aber durch Zuhören ihr Erwachsenenleben erleichtern können, so daß fünfzig Jahre nach den Ereignissen und zwanzig Jahre nach seinem Tod ihre unerzählte Vergangenheit sie nicht wie ein dunkles Ungeheuer noch einmal hätte verschlucken müssen.
Was bedeutet die geleugnete Vergangenheit meiner Mutter und Großmutter für meine Identität, was bedeutet es mir zu wissen, daß sie als Jüdinnen den Holocaust überlebt haben? Als ich es erfahren habe, wußte ich, daß, wenn sie Jüdinnen sind, ich es, halachisch betrachtet, auch bin. Doch ändere ich nicht meine Identität, weil plötzlich ein religiöser Grundsatz für mich gilt. Was mich im ersten Moment am meisten an den Enthüllungen über meine Familie bewegt hat, war, daß ich endlich eine scheinbar unzusammenhängende Masse schmerzhafter Erinnerungen, Alpträume, Paranoia, die unser Alltagsleben in der Toskana bestimmt hatten, einordnen konnte. Daß ich wußte, warum ich mit zwei Frauen aufgewachsen war, deren Leben gebrochen war und nicht geheilt. Daß meine Großmutter in Galizien aufgewachsen war und ihre Mutter den Kaiser und Heine verehrte, das Lager kannte, in dem ihr Mann ermordet worden war, und die Orte ihrer Flucht. An die Stelle von Schweigen und Brüchen traten jetzt Bilder und Gewißheit.
Als ich von älteren Schwiegerverwandten im Frühjahr einen Kalender mit schönen Abbildungen, fein markierten Daten wie Göbbels Geburtstag und anderen wichtigen NS-Feierlichkeiten bekam und einen Verleugnungsartikel von Horst Müller noch dazu, habe ich mich zum ersten Mal wahrhaft persönlich verletzt gefühlt. Ich wollte nicht diskutieren, dafür war ich zu empört. Ich habe ihnen sagen lassen, ich sei Jüdin aus einer Familie von Überlebenden. Ich wollte nur noch (und will es immer noch) zwischen ihnen und mir eine ganz dicke, klare Grenze errichten.
Als ich aber als Jüdin zu einem deutsch-jüdisch-polnischen Treffen eingeladen wurde und man von mir wissen wollte, wie gefährlich mein Leben in Berlin sei, konnte ich nicht den Erwartungen entsprechen. Ich habe überlegt, ob ich je bedroht worden war, als ich bei der jüdischen Gemeinde gearbeitet habe. Einmal haben wir gedacht, es sei eine tickende Paketbombe angekommen, aber in Wirklichkeit war es nur eine sehr häßliche Uhr. Ansonsten hat mich ein Mal eine Dame aus Bayern gefragt, ob sie ein Photo mit mir machen dürfe, weil ich das Jüdischste sei, was ihr bisher begegnet wäre. Ich habe mehrmals erlebt, wie mir Deutsche der ersten und zweiten Generation, wenn ich mich als Jüdin identifiziert habe, erzählen wollten, daß sie auch einen jüdischen Verwandten hatten, mir die Bücherregale mit ihren „Judenbücher" zeigten, und ihre Liebe für alle Juden, ihre Bewunderung für Juden in der Kunst bekundeten (beziehungsweise ihre Mißbilligung für jene, die sich weiterhin mit Geld beschäftigen). Mein Auge ist immer öfter an den Sortimenten der Billigbücherläden hängengeblieben, deren Auswahl nur aus Sex- (Helmut Newton Kalender, Erotika Sammelbände, Besser lieben) und „Judenbüchern" (Jüdisches in Berlin, Jüdische Kalender, „Kabbala leicht gemacht") zu bestehen scheint. Eine regelrechte Manie: „Wählerisch ist man nicht. Die Menorah hat längst den Gartenzwerg als seelisches Kuscheltier der Deutschen ersetzt. Die Klezmerfidel und Giora Fejdmans Klarinette sind zu Nationalinstrumenten der deutschen Judenbesessenheit geraten" Aber es gab, in dem wenigen, was ich erlebt habe, nichts wirklich Beängstigendes zu berichten, noch haben die anderen eingeladenen Juden schlimmeres zu berichten gehabt. Trotzdem hat die Zitty aus diesem Treffen eine Titelstory gemacht. Auf dem Cover die Neue Synagoge, darüber ein schwarz-weiß Bild aus den dreißiger Jahren, beide brennen, und der große Titel in roten Buchstaben: Lesezirkel Angst: Wie Berliner Juden mit der Gewalt umgehen. Das ist beängstigend.
Diana Pinto fordert auf: „In dem beginnenden Jahrhundert sollten sich die Juden in Deutschland und in Europa nicht mehr einfach mit der Vergangenheit assoziieren lassen, sondern in bester jüdischer Tradition mit den Anforderungen des Lebens — nicht des Todes." Da tönt das Manifesto der Künstlergruppe Meshulash vielversprechend:
Gedenktafeln und Sonntagsreden, Polizeischutz und immer wieder Klezmermusik[...] Für junge Jüdinnen und Juden, die in Berlin groß geworden oder bewußt in diese Stadt gezogen sind, stellt sich das Bild ganz anders dar. Wir sind in der Diaspora zuhause und wollen anDebatten anknüpfen, die in den dreißiger Jahren gewaltsam abgebrochen wurden. Wir mischen uns ein, wenn unserer ermordeten Großeltern gedacht oder eine lebendige Tradition zum Museumsstück gemacht wird und finden eigene Wege.
[...] die Auseinandersetzung mit der Schoah muß möglich sein, ohne dabei in eine Lähmung zu verfallen. [...] Judentum ist mehr als die Bilder von Leichenbergen, tanzenden Chassidim und israelischem Militär. Berlin ist auf’s neue das Zentrum jüdischen Lebens in Deutschland - und wir, die dieses Leben ausmachen, sind keine displaced persons mehr, nicht allein Kinder Überlebender, nicht nur Mitbürger. Wir haben und nehmen Anteil an dieser Stadt und malen uns eine Zukunft aus: jüdische Visionen in und für Berlin.
Aber die Realität ist leider eine andere als die, welche man sich in Manifesten ersehnt, sie muß halt noch verändert werden. Die Künstler von Meshulash entrinnen der Vorprägung nicht. In einer Dokumentation über einzelne Mitglieder der Gruppe zeigt Gabriel Heimler die geerbten Schuhe seiner Großmutter, mit denen sie in Auschwitz gewesen ist. Anna Adam erklärt, daß sie nicht in die S-Bahn steigen kann, weil die S-Bahn sie an die Züge nach Auschwitz denken läßt. Ihre Arbeiten im Rahmen der Gruppenausstellungen zeigen, daß die Mitglieder von Meshulash sich doch als "Kinder Überlebender, Mitbürger" fühlen. Der Unterschied zwischen dem „Wir" und dem „Ihr" bleibt bestehen. Zwischen dem Wunsch, ihn zu überwinden, und der eigentlichen Überwindung liegt leider immer noch mehr als ein Manifest.Ich kenne die paranoide Angst, die mich zu schlechten Zeiten beim Anblick von Schäferhunden und Jägerständen packt. Aber ich weiß auch, daß sie bei mir, nicht beim Hochstand liegt. Und trotz meiner Entrüstung beim Göbbels-Geburtstagskalender, auf die ich nicht anders zu antworten wußte, glaube ich weder, die Deutschen hätten mir etwas angetan, noch ich den Juden etwas. Obwohl ich weiß, daß Großvater Jusek, Großonkel Michael, Großtante Rosa, Urgroßeltern Bela, Pinkus, Amalia und Boris zusammengeschlagen, erniedrigt, gefangen und ermordet wurden, im Namen Deutschlands, weiß ich, daß diese Zeit nicht gleich jener ist. Ich sehe mich nicht in der Gefahr, ermordet zu werden, sehe diese Gefahr nicht in den Gesichtern deutscher Freunde, finde diese Gefahr nicht in jeder Äußerung. Ich höre viel Dummheit, aber nicht andauernde Gefahr. Als Deutsche, wiederum, glaube ich nicht den Menschen gleich zu sein, die diese Morde begangen haben, ich glaube nicht in Gefahr zu stehen, so etwas zu wiederholen. Obwohl die Großeltern Maria und Clemens es geduldet haben und ich nicht sicher bin, ob ich besser bin und meinen Kindern etwas Besseres beibringen werde, so lebe ich doch nicht in der gleichen Zeit. Ich kann nicht eine dieser Seiten annehmen und mit ihr eine tragbare Beziehung zu "den Anderen" entwickeln. Vielleicht geht es mir nur darum, meine eigene schizophrene Wurzellosigkeit zu überwinden, mit einer Suche nach einer Bedeutung des Holocausts, die die deutsche, jüdische, italienische, venezolanische, amerikanische, israelische, aber auch palästinensische und sogar ganz andere Erinnerungskulturen miteinander verbinden kann.
Ich hatte das Bedürfnis, etwas entgegenzusetzen, eine Lösung zu formulieren, die für mich akzeptabel wäre, dieses Thema [jüdisch zu sein in Deutschland, C.K.] heute zu behandeln. Ich glaube, daß das einzige, was wir, um weiterzukommen, machen können, ist, uns von den alten, klischeehaft vorgegebenen Rollen zu lösen und einen Weg zu finden, anders darüber zu reden, nicht aus diesen clanmäßigen geschlossenen, nicht aus denselben Mustern: Beleidigung, Opfer-Täter, Verletzlichkeit, Mißtrauen... An der Frage des Antisemitismus wird alles gemessen. Das ist mir zu klein. Es gibt Rassismus, Diskriminierung von Schwulen, Schwarzen, Frauen, in England sind es Inder, ich versuch’ es allgemeiner zu sehen: Daß es in jedem Land grausamerweise stattfindet und nicht ein jüdisches Problem ist. Die Frage ist nicht, wen wir unterdrücken oder wer uns, sondern warum Menschen jemand brauchen, den sie diskriminieren müssen. Ich bin in keinster Weise bereit, mich in diese Opferrolle drängen zu lassen, weil ich gleichzeitig sehe, wie prekär es wird, wenn Opfer sich in ihrem Opfersein bestätigt fühlen, stark machen, aber nicht vom Problem und Muster emanzipieren, sondern in den gleichen Mustern weiterarbeiten und dasselbe wiedergeben. Ich habe das Gefühl, die jüdische Seite bricht da nicht durch, es wird eine Stellungnahme erwartet, es gibt keine freie Entscheidung, es ist eine Stellungnahme, die schon vorgeschrieben wird. Dazu bin ich nicht bereit. Sie ist formelhaft, sloganmäßig, diese Einstellung, und ich bin nicht bereit mitzumachen. Dadurch kriege ich einige Probleme. Entweder ich ziehe mich aus dem Diskurs zurück, oder ich nehme teil in Nischen, die dafür vorgesehen sind und in diesen Nischen ist nur eine einzige Stellungnahme für mich bereitet, und wenn ich nicht mitmache, werde ich aus dem Diskurs ausgeschaltet.
Ich kann mir die Entwicklung so vorstellen, daß die deutsche Seite empört und insgeheim zufrieden nach Hause geht, es ist wieder wie beim nackten König. Und daß die jüdische Seite in so ein Unbehagen gerät, wo sie mir nicht Antisemitismus vorwerfen können aber…
[C.K.:]… daß du Futter für Antisemiten produzierst…
Und gibt es überhaupt ein Publikum, das bereit ist, die Werke ohne Voreinstellungen zu betrachten? Oft zählt bei jüdischen Künstlern in Deutschland nicht die Kunst, sondern nur, daß sie Juden sind, wie es in diesem Interview Esther Dischereit beklagt:
Walter Benz: Und macht sich das dann im Umgang mit dem Auditorium bemerkbar? Wie groß ist da der Grad der Unbefangenheit?
Esther Dischereit: Das macht sich sofort darin bemerkbar, daß das Publikum dann in der Regel von der Literatur weggeht. Sofort wird über die jüdischen Befindlichkeiten gesprochen… Man hätte auch jemanden aus der Soziologie oder Politik oder sonstwen schicken können, um sagen zu können: Da ist ein Jude oder eine Jüdin zum Anfassen. Ja, ich werde natürlich instrumentalisiert, und ich weiß es.
Es ist eine Zwickmühle, denn es dürfen in einem Land mit dieser Geschichte ja über gewisse jüdische Themen anscheinend nur Juden schreiben. Biller, der in Harlem Holocaust einen doppelten Salto macht , um mit Bravour und Humor latente Philo- und Antisemitismen aufzudecken, darf dies, erklärt uns Gustav Seibt im Nachwort, wohl nur, weil er Jude ist:
Überhaupt, schreibt Seibt recht beunruhigend weiter, so gute Kurzgeschichten kann nur ein fröhlicher Jude in Deutschland schreiben:
Seit dem Judenmord fühlen sich die Deutschen, ob sie es nun zugeben oder nicht, nicht mehr wohl mit sich selbst. Sie haben gute Gründe, einander nicht mehr über den Weg zu trauen. Sie finden sich unsympathisch und nörgeln ununterbrochen an sich herum. Der Holocaust hat eine betonartige Freudlosigkeit über das deutsche Dasein gegossen. Alle Züge der Verquältheit, der Bigotterie, der Bestrafungs-, Rechtfertigungs- und leeren Reinheitssüchte unserer Kultur wurden in einem pathologischen Ausmaß gesteigert und dabei ästhetisch weitgehend fruchtlos gemacht. So ist uns die Leichtigkeit verlorengegangen. […] Maxim Billers Geschichten haben trotz des Hintergrunds der jüdischen Katastrophe diese Voraussetzungen an guten Lebensformen und guten Gefühlen; ganz oft das pure Mitgefühl mit der Generation der Eltern und Großeltern, wie es ein Jude selbstverständlich aufbringen kann und ein Deutscher eben nur zögernd und zweifelnd. Sie sind, wie wirksame kurze Geschichten sein sollen, ohne weiteres übersetzbar oder nur zufällig in deutscher Sprache geschrieben.
Was sollte das für eine Leichtigkeit sein? In „Warum ich lieber kein Jude wäre; und wenn schon unbedingt — dann lieber nicht in Deutschland" beschreibt Henryk Broder seinen Kampf um eine eigene Identität:
Es dauerte lange, bis ich begriff, daß meine Eltern die KZ-Zeit nur physisch, wenn auch knapp, überstanden hatten, daß sie psychisch zerstört, seelisch endgelöst waren. […] Heute weiß ich, daß [ihre Geschichten] für meine Entwicklung entscheidend gewesen sind, daß dies der jüdische Teil meiner Existenz ist, etwas, das ich nicht in der Hand habe, das mich beherrscht, wie es will. Wie gesagt, ich bin nicht stolz darauf, es ist mir sogar lästig, ich würde es gerne ablegen, wenn ich könnte. Und manchmal denke ich: Würde ich nicht in Deutschland leben, könnte ich es vielleicht ablegen. Nur — in Deutschland kann ich es mit Sicherheit nicht. Wenn ich auf einem Bahnsteig stehe und eine Durchsage höre, daß ein Zug ‚planmäßig‘ einfährt oder abfährt, dann assoziiere ich automatisch, daß auch die Züge in den KZs planmäßig gefahren sind.
Das Nicht-Ablegen-Können dieser Rollen, die in der Vergangenheit wurzeln, erlebe ich doppelt, und ich bin ihm oft in unserer Generation begegnet, trotz der Versuche, es zu vergessen, loszuwerden, zu überwinden. Ich habe einen jungen Künstler getroffen, der als Jude in Deutschland aufgewachsen ist: Jüdischer Kindergarten, Makkabi, jüdische Schule. Als er ein Teenager war, hat sich herausgestellt, daß seine Mutter nur vorgegeben hatte, aber nie tatsächlich zum Judentum konvertiert war. Außerdem war er nicht der Sohn seines vermeintlichen, israelischen, Vaters, noch der Sohn des angeblichen jüdischen Zeugevaters, sondern der Sohn eines Deutschen, mit dem die Mutter ein kurzes Verhältnis gehabt hatte. Als kleiner Junge hatte er in der Schule die Filme mit den Leichenbergen in den Konzentrationslagern gesehen. Damals dachte er: Das ist, was sie uns angetan haben. Jetzt weiß er nicht, was er denken soll, wenn er die Bilder sieht: Das haben wir ihnen angetan?
Eine gemeinsame Bedeutung
Die Autoren dieses Bandes wollten nach der Bedeutung suchen, die der Holocaust heute hat. Doch steht dem etwas quer. Etwas, das die Diskussion der Bedeutung verhindert hat. Etwas, das Zurückhaltung und Schweigen wichtiger gemacht hat als forschendes Fragen und streitbares Diskutieren; eine gewisse, aus geerbter Scham und geerbtem Schmerz rührende Zurückhaltung. Übrig blieben normative Wünsche, mit denen Differenzen überbrückt und die Diskurse zwischen Deutschen und Juden erleichtert werden sollen. Diskurse sollten aber trotz dieses Problemes versucht werden, es sollte versucht werden, Brücken zu schlagen. Das würde auf die Bedeutung, die wir entwickeln, einwirken. Folgende Generationen, die nicht mehr von diesen Rollen ausgehen, würden wiederum andere Bedeutungen finden.
Jetzt sind vererbte Rollen und Gefühle noch ein Teil unserer unterschiedlichen Identitäten, und es geht nicht darum, sie aus dem Weg zu räumen, wegzuschaffen. Wenn das Seminar jetzt noch einmal begänne, wünschte ich, wir würden vor allem über die Bedeutung des Holocaust nachdenken, auf ihn reflektieren und ihn analysieren. Vielleicht sollten wir zusammen dem Grauen ins Gesicht schauen. Von dort ausgehend könnten wir versuchen, unser Schweigen angesichts der Unfaßbarkeit und Unsagbarkeit zu bändigen und nach einer Bedeutung des Holocaust für uns suchen.
Wir leben, reisen, studieren zwischen Ländern und Kulturen. Bald werden wir Kinder erziehen, vielleicht lehren, unsere Überzeugungen verbreiten. Was werden wir den nachfolgenden Generationen beibringen, was weitergeben? Werden wir alle glauben, daß der Holocaust eine notwendige Beschäftigung ist? Und wenn ja, wissen wir, wie man praktisch und seelisch mit den Folgen einer Katastrophe umgeht? Haben es die zwei Generationen vor uns gut oder schlecht getan? Können wir es besser als unsere Eltern und Großeltern tun? Können wir Kriege vermeiden, die Folgen eines Krieges besser verarbeiten, lernen, wie man mit Verbrechern und Opfern der Konflikte umgeht? Wir hoffen, keine Menschen zu sein, die so etwas wie diesen Krieg und diesen Holocaust geschehen lassen würden, auch wenn wir uns manchmal nicht sicher sind, daß wir dem genug entgegenhalten. Wir merken, daß jede Anstrengung, den Holocaust zu fassen, erschöpft und den Wunsch provoziert, ihn wieder als unfaßbar abzuweisen. Ich glaube, daß alles, was mit dem Holocaust zusammenhängt, noch nicht zuende gedacht ist, daß meine Erinnerung weder die einer Opferenkelin noch die einer Täterenkelin allein sein kann. Ich kann nicht die Selbstverständlichkeiten, die die eine oder andere Gruppe weitergibt, übernehmen. Ich kann meine Moral nicht nur auf einer deutschen oder jüdischen Erinnerung aufbauen. Ich möchte als Mensch mit dem Holocaust umgehen. Bedeutungen, die nur für Gruppen gelten, reichen in unserer Welt nicht aus.
Natan Sznaider: „Holocausterinnerung an die Twin Towers", Frankfurter Rundschau vom 9.25.2001
Amory Burchard: „Millimeterarbeit am Ort des Verbrechens", Der Tagesspiegel vom 18.06.2001.
Rafael Seligmann: „Ausbruch aus dem Pandakäfig", Berliner Zeitung vom 18.03.2000.
Zitty Nr. 23/2000 (Berliner Stadtmagazin).
Diana Pinto: „Am Deutschen Kreuzweg", DIE ZEIT vom 6.07.2000
Meshulash Berlin (Hg): Davka. Jüdische Visionen in Berlin, Berlin 1999, S. 7.
Sendung Juden in Berlin vom 13.12.2000 (45min), ARD 23 Uhr.
Marina Klinker im Gespräch mit der Autorin, Dezember 2000.
„Gespräch mit Wolfgang Benz", in: Esther Dischereit 1998, S. 205.
Gustav Seibt: „Der letzte Augenblick der Unschuld. Ein Nachwort", in: Maxim Biller: Harlem Holocaust, Köln 1998. Ebd.
Henryk Broder: „Warum ich lieber kein Jude wäre; und wenn schon unbedingt — dann lieber nicht in Deutschland", in: Ders. und Michel R. Lang (Hgg): Fremd im eigenen Land. Juden in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1979, S. 85.